HELP-Blog-Kategorie_Chronischer-Schmerz
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Noziplastische Schmerzen in der Praxis erkennen 

Chronische Schmerzen sind nicht immer das Ergebnis einer Verletzung oder Erkrankung mit klarer Gewebeschädigung. Ein erheblicher Teil entsteht durch Veränderungen in der Schmerzverarbeitung des Nervensystems – sogenannte primäre oder noziplastische Schmerzen. Sie zu erkennen, ist entscheidend für die richtige Therapieentscheidung. 

 

Das Grading-System für noziplastischen Schmerz 

Die klinischen Kriterien und das Grading-System wurden 2021 von Kosek et al. entwickelt und bieten eine standardisierte Grundlage: 

  1. Schmerzlokalisation und -verlauf – häufig diffus oder wechselnd, nicht streng anatomisch. 
  2. Fehlen eindeutiger struktureller Ursachen – Bildgebung und Labor ohne erklärenden Befund.
  3. Anzeichen zentraler Schmerzverarbeitung – z. B. Allodynie, Hyperalgesie, multiple Schmerzareale.
  4. Begleitsymptome – Schlafstörungen, Fatigue, kognitive Einschränkungen. 

 

Das Grading erfolgt in Stufen (definitiv, wahrscheinlich, möglich) und hilft, die Diagnose im Praxisalltag zu strukturieren. 

 

FIT-Kriterien – diagnostische Leitlinie im Alltag 

Eine praxisnahe und gut integrierbare Methode (Schubiner et al., 2024) gliedert sich in drei zentrale Schritte: 

1. Rule out – strukturelle Ursachen ausschließen 

  • Sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung, gezielte Diagnostik 
  • Ausschluss signifikanter Gewebeschäden, akuter Pathologien oder fortschreitender Erkrankungen, die den Schmerz vollständig erklären könnten 

 

2. Rule in – positive Indikatoren für primären Schmerz finden 

  • Schmerzen passen nicht in ein klares strukturelles Muster 
  • Variabilität in Lokalisation und Intensität 
  • Keine klare Korrelation zwischen Belastung und Schmerzverlauf 

 

3. FIT-Kriterien – drei Kernmerkmale 

F – Funktionell 

  • Schmerzreaktionen sind variabel je nach Kontext, Aufmerksamkeit oder emotionaler Lage 
  • Ein Beispiel: Eine Bewegung im Alltag ist schmerzfrei, in der Untersuchung aber schmerzhaft – oder umgekehrt 

 

I – Inkonsistent  

  • Schmerzverlauf, Ausbreitung oder Begleitsymptome passen nicht zu einem isolierten strukturellen Schaden 
  • Ein Beispiel: MRT zeigt eine degenerative Bandscheibenveränderung, der Schmerz ist aber beidseitig und wechselnd 

 

T – ge-Triggert 

  • Körperliche oder emotionale Auslöser, die nicht durch Gewebeschädigung erklärbar sind 
  • Ein Beispiel: Schmerzzunahme nach Konfliktgespräch oder in stressbelasteten Situationen 

 

Eine kompakte Übersicht der FIT-Kriterien, inklusive praxisnaher Formulierungen für die Patient:innenkommunikation, findet sich in: 
Kallweit & Schubiner (2025), Pain Reprocessing Therapy – Schmerz neu denken, Schmerz, 39(4), 270–277. (PDF) (→ Link zur Website

 
Diagnostische Tools 

Zur zusätzlichen Absicherung eignen sich unter anderem: 

  • Central Sensitization Inventory (CSI) – Erfassung von Symptomen zentraler Sensitivierung 
  • Pain Catastrophizing Scale (PCS) – Erhebung kognitiv-emotionaler Einflussfaktoren wie Kathastrophisierung 
  • Anamnestische Exploration – gezielte Fragen zu Schmerzvariabilität, Kontextfaktoren, Symptomverlauf 
  • Provokationstests – gezielte Reizsetzung in sicherem Rahmen, Beobachtung der Reaktion 

 

Vom Schmerzmechanismus zur Therapie  

Einen noziplastischen Schmerzmechanismus zu erkennen ist nicht nur diagnostisch relevant – es verändert die Behandlung grundlegend: 

  • Reattribution: Die Erklärung, dass der Schmerz nicht durch Gewebeschaden aufrechterhalten wird, kann Angst abbauen und die Motivation für aktive Therapie steigern. 
  • Therapieplanung: Fokus auf neuroplastische Interventionen, “Schmerz verlernen”, emotionale Verarbeitung, kritische Beurteilung von Interventionen 

 

HELP bietet hier eine strukturierte Unterstützung – mit Edukation, Übungen und alltagsintegrierter Festigung der neuen Perspektive. 

 

Fazit 

Noziplastische Schmerzmechanismen lassen sich im Praxisalltag gezielt erkennen, wenn strukturelle Ursachen ausgeschlossen und zentrale Schmerzmerkmale aktiv gesucht werden. 
Das Zusammenspiel aus Rule out, Rule in und FIT-Kriterien bietet Ärzt:innen wie Patient:innen eine klare Orientierung – und öffnet den Weg zu einer neuen Perspektive und Therapieoptionen. 

In HELP erhältst Du eine klare Schritt-für-Schritt-Anleitung, um Deinen Schmerzmechanismus zu verstehen und gezielt zu beeinflussen – evidenzbasiert und praxisnah. 

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Literatur

  • Kallweit, A., Schubiner, H. (2025). Pain Reprocessing Therapy – Schmerz neu denken: Eine neue psychotherapeutische Methode zur Behandlung von chronischem Schmerz. Schmerz, 39(4), 270–277. doi:10.1007/s00482-025-00889-3 
  • Schubiner, H., Lowry, W.J., Heule, M., et al. (2024). Application of a Clinical Approach to Diagnosing Primary Pain: Prevalence and Correlates of Primary Back and Neck Pain in a Community Physiatry Clinic. J Pain, 25(3), 672–681. doi:10.1016/j.jpain.2023.09.019 
  • Kosek, E., Clauw, D., Nijs, J., et al. (2021). Chronic nociplastic pain affecting the musculoskeletal system: clinical criteria and grading system. Pain, 162(11), 2629–2634. doi:10.1097/j.pain.0000000000002324 
  • Schmidt, H., Drusko, A., Renz, M.P., et al. (2025). Application of the grading system for „nociplastic pain“ in chronic primary and chronic secondary pain conditions: a field study. Pain, 166(1), 196–211. doi:10.1097/j.pain.0000000000003355 
Dr. Antje Kallweit

Gründerin und CEO von HELP, Fachärztin für Anästhesiologie, Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie

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