Wenn der Schmerz bleibt – obwohl medizinisch „alles okay“ ist
Noziplastischer Schmerz entsteht nicht durch Verletzungen, Entzündungen oder Nervenschäden, sondern durch eine veränderte Signalverarbeitung im zentralen Nervensystem. Er ist echt, oft chronisch und für Betroffene schwer greifbar, da medizinische Befunde meist unauffällig sind.
Was bedeutet eigentlich „noziplastisch“?
Vielleicht hast Du schon gehört: „Da ist nichts.“ – oder: „Das ist psychosomatisch.“ Doch Du spürst chronischen Schmerz. Echte Schmerzen. Nur passen Deine Beschwerden nicht zu den Bildern oder Untersuchungen.
Ein entscheidender Punkt: Jeder Schmerz entsteht im Gehirn. Auch bei Wunden oder einem Bandscheibenvorfall: Erst wenn das Gehirn Signale als bedrohlich bewertet, wird Schmerz wahrgenommen. Das macht den Schmerz nicht weniger real – er ist eine Schutzreaktion des Nervensystems. Doch manchmal bleibt dieser Alarm bestehen, obwohl der Auslöser weg ist. Das ist noziplastischer Schmerz.
Was unterscheidet noziplastischen Schmerz?
Er unterscheidet sich von:
- Nozizeptivem Schmerz, der durch Gewebeschädigung oder Entzündung entsteht (z. B. bei Arthrose, Muskelzerrung),
- Neuropathischem Schmerz, der durch Nervenschädigungen verursacht wird (z. B. bei Polyneuropathie oder nach Gürtelrose),
und bildet eine dritte Kategorie, die durch eine veränderte Funktion der Schmerzverarbeitung gekennzeichnet ist [1].
Schmerz ohne klare Ursache – und trotzdem real
Noziplastischer Schmerz zeigt sich in einem überempfindlichen Schmerznetzwerk – das zentrale Nervensystem reagiert übermäßig stark, obwohl keine neue Gewebeschädigung vorliegt [2, 3].
Typische Beispiele sind:
- Fibromyalgie
- Chronische Rückenschmerzen ohne strukturelle Ursache
- Schmerzen nach Operationen oder Unfällen, obwohl alles verheilt ist
- Spannungs-Kopfschmerzen, Beckenschmerz, Gesichtsschmerz – oft über Monate oder Jahre
Wie entsteht noziplastischer Schmerz?
Zentrale Sensitivierung
Der Schlüsselbegriff ist zentrale Sensitivierung: Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark reagieren übermäßig stark auf Reize – auch solche, die normalerweise keinen Schmerz auslösen [4, 5].
Lernen durch Wiederholung (Konditionierung)
Schmerz kann sich „einschleifen“: Wiederholte Aktivierung bestimmter Nervenbahnen – etwa durch Angst oder starke Aufmerksamkeit – festigt sich wie ein Ohrwurm. Das Nervensystem wird auf chronischen Schmerz „trainiert“.
Predictive Coding
Das Gehirn bewertet Reize und erwartet, was passieren wird. Wenn es „mit Schmerz rechnet“, kann es diesen auch ohne äußeren Reiz erzeugen – basierend auf Erfahrungen, Emotionen oder Kontext [6].
Weitere Einflussfaktoren
Stress, emotionale Belastung, frühkindliche Erfahrungen, Schlafstörungen oder genetische Faktoren können das System empfindlicher machen. Noziplastischer Schmerz ist ein Zusammenspiel aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren.
Warum ist dieses Wissen so wichtig?
Das Verständnis von noziplastischem Schmerz eröffnet neue Wege. Wenn Schmerz durch Lernprozesse entsteht, kann er durch neue Erfahrungen, gezielte Aufklärung und Übungen verändert werden. Das nennt man Neuroplastizität.
Die HELP-App setzt genau hier an: Mit verständlicher Aufklärung, gezielten Übungen und stärkenden Impulsen unterstützt sie Dich, Deinen chronischen Schmerz zu verstehen – und neue Wege zu gehen.
Wie erkenne ich noziplastischen Schmerz?
Es gibt keinen einfachen Blutwert oder Scan, aber klare klinische Hinweise.
Schritt 1: Andere Ursachen ausschließen (Rule-out)
Vor der Diagnose sollten entzündliche, strukturelle oder neuropathische Ursachen medizinisch ausgeschlossen werden – durch Anamnese, klinische Untersuchung und ggf. Bildgebung. Wichtig: Auch wenn ein MRT etwas zeigt, ist das nicht immer die Ursache. Studien zeigen: Viele Menschen haben Veränderungen an der Wirbelsäule – ohne Beschwerden [7].
Schritt 2: Hinweise für noziplastischen Schmerz erkennen (Rule-in)
Diese Merkmale deuten auf noziplastischen Schmerz hin:
- Schmerz, der nicht zu den Befunden passt
- Schwankende Intensität oder Phasen völliger Beschwerdefreiheit
- Schmerzausweitung auf mehrere Regionen ohne klares Muster
- Zunahme bei Stress oder emotionaler Belastung
- Schmerz an alten Verletzungsstellen, obwohl dort alles verheilt ist
- Unspezifische, diffuse Schmerzqualität
- Schmerzreaktion auf leichte Berührung oder Druck (Allodynie)
Je mehr Kriterien zutreffen, desto wahrscheinlicher ist ein noziplastischer Mechanismus [8].
Fazit
Noziplastischer Schmerz ist nicht „eingebildet“, „psychisch“ oder „psychosomatisch“ – sondern neurobiologisch erklärbar. Er zeigt, wie stark Körper, Nervensystem, Gedanken und Emotionen verknüpft sind. Dieses Verständnis verändert den Blick – und schafft Raum für Veränderung.
In der HELP-App erfährst Du Schritt für Schritt, wie noziplastischer Schmerz entsteht, was ihn beeinflusst – und wie Du Deine eigene Rolle in der Schmerztherapie gestalten kannst.
Literatur
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- Kosek, E., et al., Do we need a third mechanistic descriptor for chronic pain states? Pain, 2016. 157(7): p. 1382-1386.
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- Fitzcharles, M.A., et al., Nociplastic pain: towards an understanding of prevalent pain conditions. Lancet, 2021. 397(10289): p. 2098-2110.
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- Kosek, E., The concept of nociplastic pain—where to from here? PAIN, 2024. 165(11S): p. S50-S57.
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- Nijs, J., A. Malfliet, and T. Nishigami, Nociplastic pain and central sensitization in patients with chronic pain conditions: a terminology update for clinicians. Braz J Phys Ther, 2023. 27(3): p. 100518.
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- Volcheck, M.M., et al., Central sensitization, chronic pain, and other symptoms: Better understanding, better management. Cleve Clin J Med, 2023. 90(4): p. 245-254.
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- Henningsen, P., et al., Persistent Physical Symptoms as Perceptual Dysregulation: A Neuropsychobehavioral Model and Its Clinical Implications. Psychosom Med, 2018. 80(5): p. 422-431.
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- Brinjikji, W., et al., Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations. AJNR Am J Neuroradiol, 2015. 36(4): p. 811-6.
- Schubiner, H., et al., Application of a Clinical Approach to Diagnosing Primary Pain: Prevalence and Correlates of Primary Back and Neck Pain in a Community Physiatry Clinic. J Pain, 2024. 25(3): p. 672-681.